
Steph Cha: Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Unionsverlag 2025.
336 Seiten.
Steph Cha: Brandsätze
Brandsätze ist eine fiktive Geschichte, die auf historischen Ereignissen beruht. Die Handlung beginnt im Jahr 1991, in dem Polizisten in Los Angeles den Afroamerikaner Rodney King brutal misshandeln. Massenproteste flammen auf. Im Zentrum stehen zwei Familien, eine mit koreanischen, die andere mit afrikanischen Wurzeln. Beide ringen um Anerkennung, Würde und eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Während die afroamerikanischen Jugendlichen Shawn, Ray, Ava mit ihren Freund*innen einfach nur ins Kino gehen möchten, geraten sie mitten in die bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Gleichzeitig versucht eine aus Korea stammende Familie, in ihrem Laden Lebensmittel zu verkaufen. Die Wege beider Familien kreuzen sich auf dramatische Weise.
Die koreanisch-US-amerikanische Schriftstellerin Steph Cha thematisiert aus der Sicht des erwachsenen Shawn und der jungen, koreanisch-stämmigen Grace rassistische Gewalt, Schmerz und Schuld. Chas Sprache ist klar und schnörkellos, mitfühlend, aber nie sentimental. Sie zeigt, wie kollektive und persönliche Traumata bis in die Gegenwart weiterglimmen und jederzeit wieder auflodern können – befeuert von den sozialen Medien.
Cha setzt in ihrem Roman Latasha Harlins ein Denkmal. Die 15-Jährige wurde 1991 in L. A. von einer koreastämmigen Ladenbesitzerin erschossen – wegen eines angeblich gestohlenen Orangensafts. Die Täterin kam mit einer Bewährungsstrafe davon.
Steph Cha, 1986 in Kalifornien geboren, lebt als freie Autorin in Los Angeles. Brandsätze wurde unter anderem mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet. Der Roman ist emotional vielschichtig und mit Blick auf die aktuellen Ereignisse in den USA politisch hoch relevant – absolut lesenswert!

Seishi Yokomizo: Der Inugami-Fluch
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Blumenbar Verlag, 2025.
334 Seiten.
Seishi Yokomizo: Der Inugami-Fluch
Was bleibt, wenn ein Familienoberhaupt stirbt? In Seishi Yokomizos Der Inugami-Fluch ist es kein würdevoller Abschied, sondern ein tödliches Ringen um Geld, Einfluss – und das letzte Wort eines Patriarchen. Die Inugamis sind eine vermögende, angesehene Familie. Doch hinter der Fassade brodelt es: Alte Feindschaften, verdrängte Verletzungen, stille Verachtung – all das bricht auf, als das Testament von Sahei Inugami geöffnet wird. Es ist ein letzter Akt der Kontrolle: Der alte Mann vererbt nicht einfach, er spielt seine Nachkommen gegeneinander aus. Der Streit um das Erbe eskaliert – mit tödlichen Folgen. Ein Toter, ein Testament – und plötzlich wird aus Familie ein Schlachtfeld. Der letzte Wille des Patriarchen ist alles andere als gerecht: Außenseiter werden bevorzugt, Blutsverwandte gekränkt. Schon bald beginnt das Morden.
Detektiv Kosuke Kindaichi, chaotisch im Auftreten, aber genial im Denken, wird gerufen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Doch was er aufdeckt, ist mehr als ein Kriminalfall – es ist ein Spiegel menschlicher Abgründe. Zwischen Masken, falschen Identitäten und alten Wunden offenbart sich ein Geflecht aus Neid, Hass und Begierde. Yokomizo zeigt mit messerscharfer Beobachtung, wie Erbschaften nicht nur Besitz, sondern auch Zwietracht weitergeben. Wie schnell Blutsverwandtschaft zur Nebensache wird, wenn Geld und Ansehen locken. Der Inugami-Fluch ist kein reißerischer Thriller, sondern eine vielschichtige Studie über die zerstörerische Kraft von Gier. Tragisch, atmosphärisch, brillant konstruiert – und erschreckend real.

Nicolás Ferraro: Ámbar
Aus dem argentinischen Spanisch von Kirsten Brandt.
Pendragon Verlag, 2025.
312 Seiten.
Nicolás Ferraro: Ámbar
Aus dem argentinischen „Du bist meine liebste Narbe.“ So lautet der erste Satz im Thriller Ámbar des Argentiniers Nicolás Ferraro, erschienen 2021 und nun ins Deutsche übersetzt. Gemeint mit der Narbe ist ein Tattoo, das sich Victor, der Vater der noch jugendlichen Titelheldin Ámbar, nebst zwei Hibiskusblüten auf den Unterarm tätowiert hat. In der Einstiegsszene fließt Blut über den Schriftzug, was in der Folge eine Narbe auf Papas Körper hinterlassen wird. Von denen hat er nicht wenige, und meist erinnern sie an Gewalt in Verbindung mit kriminellen Auseinandersetzungen. Victor ist nämlich Gangster – und auch jetzt wieder unterwegs auf „Mission“, mit dabei die 15-jährige Tochter, die auf dem Walkman gerne Pearl Jam hört und ihm im Ernstfall die Wunden verarzten hilft.
Der 1986 in Buenos Aires geborene Nicolás Ferraro, ein gelernter Grafikdesigner, arbeitet in der Abteilung für Kriminalistik in der Nationalbibliothek seines Heimatlandes. Gute Voraussetzungen also. Und trotzdem ist sein Roman kein typischer Krimi, sondern ein Coming-of-Age-Roman in Kombination mit einer Roadnovel. In einem alten VW 1500 bewegen sich Vater und Tochter fort, sind unterwegs im heißen und staubigen Norden im Grenzgebiet zu Paraguay, wie vereinzelt eingestreute Worte auf Guaraní andeuten. Erzählt ist der spannungsreiche Roman aus der Sicht von Ámbar, die sich eine Menge Gedanken macht über diese Art von Leben, insbesondere, da sie an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Ständig muss sie sich wechselnde Identitäten überlegen, muss bereit sein, aufzubrechen, muss sich wehren inmitten einer Gesellschaft voller Machos. Ein eigenes Leben, zumindest eines wie Gleichaltrige, hat sie nicht wirklich. Und auch über ein Tattoo denkt sie nach.

Carl Nixon: Settlers Creek
Aus dem Englischen von Stefan Weidle.
Unionsverlag, 2025.
352 Seiten.
Carl Nixon: Settlers Creek
Unglaublich spannend, atmosphärisch dicht: Carl Nixons Settlers Creek schlägt mit Handlung und Schreibstil ab der ersten Zeile in den Bann.
Der Bauunternehmer mit dem eigenwilligen Namen Box erfährt fernab vom zuhause, dass sein Sohn Mark sich das Leben genommen hat. Als ob das nicht tragisch genug wäre, taucht der seit Jahren verschwundene leibliche Vater des Jungen auf. Er will den Leichnam mitnehmen und nach Maori-Bräuchen bestatten. Die beiden Männer sind sich zwar nicht unsympathisch, aber ihre Weltbilder prallen mit Wucht aufeinander und wirbeln jede Menge Ressentiments, verstörende Rollenbilder und ungelöste Konflikte auf. Die Unvereinbarkeit ihrer Positionen führt zu einer unversöhnlichen Auseinandersetzung nach dem Motto „Er oder ich…“
Während in der ersten Hälfte des Romans Schmerz und Verzweiflung förmlich mit Händen zu greifen und vermutlich universell verständlich sind, ist die zweite Hälfte schwerer nachvollziehbar. Ist es wirklich möglich, sich aufgrund eines schmerzhaften Konflikts dermaßen selbst zu verlieren und zu vergessen? Wo bleibt der Respekt für den verstorbenen Sohn und die verbliebene Familie? Wie die Antwort auch ausfallen mag, so macht der Roman in jedem Fall klar, dass es keine einfache oder einvernehmliche Lösung geben wird und stattdessen viel tiefsitzenden Schmerz und Leid, die wiederum den Nährboden für Misstrauen und Feindseligkeit bilden.
Der in Neuseeland geborene Autor schreibt Romane, Kurzgeschichten und Dramen sowie Theaterstücke für Kinder. Für seine Kurzgeschichten erhielt er zahlreiche Preise. Settlers Creek ist nach Rocking Horse Road sein zweiter Roman; der Debütroman stand vier Monate lang auf der KrimiZEIT-Bestenliste. Nach Stationen in Canterbury, Japan und New York lebt Nixon aktuell in Christchurch.

Uketsu: HEN NA E – Seltsame Bilder
Aus dem Japanischen von Heike Patzschke.
Bastei Lübbe, Köln, 2025.
272 Seiten.
Uketsu: HEN NA E – Seltsame Bilder
Naomi Konno, einer Frau im Großmutteralter, ist nicht wohl, als ihr auf dem Nachhauseweg ein Fahrzeug im Schritttempo folgt. Tage später sieht sie den Mann erneut vor ihrem Wohnblock. Und dann klingelt es auch noch an ihrer Tür. Gründe dafür, dass sich Naomi Konno fürchten könnte, gibt es durchaus. Sie selbst hatte eine schwierige Kindheit, ist Erziehungsberechtigte des kleinen Yüta, der in der Schule zum Muttertag ein Bild malt, das seine Lehrerin irritiert und von der Schulpsychologin so gedeutet wird, als ob zuhause etwas vorgefallen sein könnte. Auch Naomi Konno hat als Kind einmal ein Bild gezeichnet, das verschieden interpretierbare Botschaften enthielt. Und dann taucht im Kriminalroman HEN NA E – Seltsame Bilder des stets eine weiße Maske und schwarze Kleidung tragenden Youtubers Uketsu auf der Rückseite eines Kassenbons auch noch die Skizze eines Gebirges auf, die ebenso wie ein Blog-Eintrag Rätsel aufgibt. Auf letzteren wiederum stoßen zwei Journalisten und Verlagsmitarbeiter – und begeben sich auf Spurensuche.
Erzählt sind die verschiedenen Kapitel und Abschnitte des leicht zu lesenden Buches jeweils aus der Perspektive von einzelnen Personen, Naomi Konno etwa, einem Kunstlehrer, Yütas Klassenlehrerin und einer Psychologin – und natürlich den beiden Spurensuchern. In vielen Dialogen fällt die ausgesuchte japanische Höflichkeit auf, etwa, sich dauernd für etwas Entschuldigen zu müssen. Für kriminalistische Spürnasen befremdlich ist manchmal die Art und Weise, wie bestimmte Umstände interpretiert und Schlüsse gezogen werden. Am Ende aber wird man feststellen, dass Uketsu die verschiedenen Stränge doch zu einem schlüssigen Ende zusammenführt. In Japan soll sich diese Form von „Sketch Mystery“ – dem Miträtseln anhand von illustrierten Hinweisen – bereits großer Beliebtheit erfreuen. Ein nächstes Buch von ihm ist bereits angekündigt.

Nora Osagiobare: Daily Soap
Kein & Aber Verlag, 2025. 288 Seiten.
Nora Osagiobare: Daily Soap
„Die Realität ist wie eine schlechte Seifenoper: Niemand möchte sie sehen.“ So steht es in Nora Osagiobares Roman Daily Soap. In der Tat ist die Realität oft voller Dinge, die viele Leute ungern wahrnehmen wollen. Genau vor diesen Themen schreckt Osagiobare nicht zurück. Rassismus, Sexismus und Klassismus werden in ihrem Debütroman eingehend beleuchtet. Dabei verarbeitet die gebürtige Schweizerin mit nigerianischen Wurzeln ihre persönlichen Lebenserfahrungen auf eine einzigartig schlagfertige Weise und verpasst dabei dem altbekannten Format der Seifenoper einen neuen Anstrich.
Die Geschichte beginnt in den späten Neunzigern: Anneli Killer trifft an einer Tramhaltestelle auf Thor Osayoghoghowemwen und verliebt sich sofort. Doch schon zu Beginn ihrer Beziehung stehen den beiden einige Hindernisse im Weg – nicht zuletzt Annelis eigene impulsive Entscheidungen. Ihre Wege kreuzen sich zudem immer wieder mit dem wohlhabenden Armin Banal vom Modehaus Banal und Bodeca.
Zwanzig Jahre später muss sich Annelis Tochter Toni mit dem alltäglichen Wahnsinn herumschlagen, der in ihrer zerrütteten Familie längst zur Gewohnheit geworden ist. Dabei hat sie es als Tochter einer Schweizerin und eines Nigerianers doch schon schwer genug. Und dann ist da noch ihre Zwillingsschwester Wanda, ein wortkarges Schachgenie, mit dem sie so gut wie nichts gemeinsam hat. Das alles kann einem schon mal ordentlich Kopfschmerzen bereiten. Ihr einziger Zufluchtsort vor dem Familienchaos und der chronischen Migräne ist ihre Lieblingssoap, deren Drehbuch ihrem eigenen Leben zu verwechseln ähnlich scheint. Toni hat eigentlich noch nie eine Folge Sturm der Triebe verpasst. Doch was passiert, wenn das Leben sie dazu zwingt?
Mit Daily Soap hat die Züricherin Nora Osagiobare eine einzigartige Mischung aus Satire und Soap-Drama geschaffen, die nicht nur unterhält, sondern auch schwerwiegende gesellschaftliche Themen gekonnt unter die Lupe nimmt.

Fann Attiki: Cave 72
Aus dem Französischen von Christiane Kayser.
Lenos Verlag, 2025. 212 Seiten.
Fann Attiki: Cave 72
Fann Attikis Cave 72 gibt Einblick in den Maschinenraum der Macht – wo Kalkül und Zufall über Leben oder Tod entscheiden. Wer dem Apparat nicht selbst zum Opfer fallen will, muss andere finden, die ihre Köpfe herhalten. Den Brennpunkt des Romans bildet die titelgebende Bar in Brazzaville, geführt von Mâ Vouala, auch bekannt als Maman Nationale.
Einer Gruppe gebildeter junger Männer dient Mamans „Cave“ als Freiraum, um wenigstens für ein paar Stunden der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Gemeinsam diskutieren sie die Absurditäten, die ihnen das Leben in einem autoritären System zumutet. Das geschieht ebenso humorvoll wie kritisch, mitunter lautstark und zynisch. Spitzel hören mit. Unversehens zieht sich die Schlinge zu. Der Machtapparat unterstellt ihnen, terroristische Umsturzpläne zu schmieden. Die Verhaftung der Unschuldigen entfacht landesweite Unruhen. Korruption und die patriarchalischen Strukturen des Regimes rücken in den Fokus der Öffentlichkeit – mit drastischen Folgen.
Auf nur wenig mehr als 200 Seiten entwirft Fann Attiki eine literarische Versuchsanordnung, die das autokratische System seiner Heimat Kongo-Brazzaville auf den Extremfall hin befragt. Damit hebt der Autor eines der ärmsten Länder der Welt ins Bewusstsein, das es trotz seiner katastrophalen Menschrechtslage kaum in die europäischen Schlagzeilen schafft. Attiki entrollt ein düsteres, gleichwohl lebenspralles Panorama vom prekären Alltag unter dem Joch der Macht, wo Lyrisches allein die Kehrseite des Grotesken ist. Lakonischer Blick und bildgewaltige Sprache speisen einen Erzählstrom von szenischer Prägnanz. Für sein Debüt Cave 72 erhielt Fann Attiki den renommierten Prix Voix d’Afriques. Keine Frage: hier betritt ein großer Hoffnungsträger die literarische Weltbühne.

Damilare Kuku: Fast alle Männer in Lagos sind verrückt
Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane.
Peter Hammer Verlag, 2025.
240 Seiten.
Damilare Kuku: Fast alle Männer in Lagos sind verrückt
Mit ihrer Kurzgeschichtensammlung Fast alle Männer in Lagos sind verrückt wirft Damilare Kuku einen schonungslosen, zugleich humorvollen und tiefsinnigen Blick auf die Liebes- und Lebensrealitäten in Lagos, Nigeria. In zwölf Erzählungen skizziert die Autorin das Leben von Frauen, die sich in einer von patriarchalen Strukturen durchdrungenen Gesellschaft behaupten – mal listig, mal verzweifelt, aber immer mit unbeirrbarer Entschlossenheit. Dabei bewegt sie sich geschickt zwischen beißender Satire, bitterer Wahrheit und überraschender Komik.
Kukus Sprache ist ungekünstelt und direkt, doch hinter ihrer scheinbaren Einfachheit entfaltet sich eine gewaltige erzählerische Kraft. Ihr lakonischer Stil, durchzogen von trockenem Witz, rückt die oft grotesken oder tragikomischen Herausforderungen ihrer Protagonistinnen in den Fokus. Diese Frauen sind keine passiven Opfer, sondern entschlossene Akteurinnen, die sich mit Intelligenz, Widerstandskraft und einem untrüglichen Gespür für ihre eigenen Bedürfnisse gegen gesellschaftliche Zwänge behaupten. Sie sind vielschichtig, widersprüchlich und authentisch – fernab von Stereotypen oder idealisierten Darstellungen.
Lagos selbst wird dabei zur vibrierenden Kulisse dieses Kampfes um Selbstbestimmung. Die Stadt pulsiert, bedrängt und zieht ihre Bewohnerinnen in einen Strudel aus Möglichkeiten und Grenzen, Sehnsüchten und Desillusionierungen. Fast alle Männer in Lagos sind verrückt ist weit mehr als eine Sammlung humorvoller Anekdoten über gescheiterte Beziehungen. Es ist ein literarischer Befreiungsschlag, eine kluge Reflexion über Macht, Geschlecht und Selbstbehauptung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Mit scharfem Witz und spürbarer Empathie zeigt Kuku, dass der Kampf um Selbstbestimmung manchmal absurd, oft schmerzhaft, aber immer notwendig ist. Dieses Buch ist ein fulminantes Zeugnis afrikanischer Gegenwartsliteratur und ein Muss für alle, die sich für moderne, unerschrockene weibliche Stimmen begeistern.

Chukwuebaka Ibeh: Wünschen
S. Fischer Verlag, 2024.
320 Seiten.
Chukwuebaka Ibeh: Wünschen
Es sind Themen, die derzeit viele Menschen bewegen, die der in Port Harcourt in Nigeria geborene Autor Chukwuebaka Ibeh in seinem Roman Wünschen verarbeitet hat: die Enge und Übergriffigkeit in einem christlichen Internat und der persönliche und gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität.
Ubiefuna (Möge mein Herz nicht verloren gehen) ist ein Wunschkind, ein sanfter Junge, tief geliebt von seiner Mutter und ausdrucksstark beim Tanzen. Die Mutter betreibt einen Friseursalon, der Vater ein Handelsgeschäft, für das er einen Lehrling einstellt. Der Junge wohnt in der Familie und freundet sich mit Ubiefuna an. Als der Vater die beiden in einer homoerotischen Situation entdeckt, wirft er den Lehrling aus dem Haus und bringt seinen Sohn in ein Internat.
Das vielschichtige Leben im Internat und die mit Tabus belegte Adoleszenz des Jungen fern der Familie umfasst einen großen Teil des Romans. Auch dort ergeben sich Gelegenheiten für homosexuelle Erfahrungen. Schließlich wird die Sprachlosigkeit in der Familie über sein „Anderssein“ überwunden. Ein Zuhause sei der letzte Ort, an dem sich ein Kind nur bedingt geliebt fühlen sollte, meint seine Mutter. Als Student begegnet ihm dann die gesellschaftliche Repression gegenüber Homosexuellen. Sie sind Übergriffen und Gewalt ausgesetzt. Bis zu 14 Jahre Haft drohen bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in Nigeria. Den Spannungsbogen der Geschichte hält Chukwuebuka Ibeh bis zum Schluss.
Der 25-jährige Autor studiert an der Washington Universität in St. Louis, Missouri in den USA. Er hat kreatives Schreiben bei den Literatur-Größen Dave Eggers, Chimamanda Ngozi Adichie und Tash Aw belegt. Wünschen ist sein erster Roman, dessen Filmrechte bereits vor Erscheinen verkauft wurden.

Raphaëlle Red: Adikou
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky.
Rowohlt Verlag, 2024.
219 Seiten.
Raphaëlle Red: Adikou
Groß ist die Zerrissenheit der jungen Adikou. So groß, dass unklar bleibt, ob eine Person aus verschiedenen Perspektiven spricht – oder sind es zwei? Wo befindet sich Adikou gerade – in Paris oder schon auf Reisen? Verzweifelt sucht die Protagonistin nach ihren Wurzeln. Nie kommt sie zur Ruhe, fühlt sich irgendwem oder irgendeinem Ort zugehörig. Zu welcher Welt gehört sie als Tochter eines afrikanischen Vaters und einer französischen Mutter? Die Antwort sucht Adikou auf einem Trip nach New York, quer durch den Süden der USA und entlang der westafrikanischen Küste durch Togo, Ghana und Benin. Wird sie auf die Spuren ihres Vaters stoßen, eines Freiheitskämpfers, der früh verschwand, insbesondere aus ihrem Leben? Gibt es an seinem Herkunftsort einen Platz für sie? Und wie kann sie diese Ungeduld, diesen überwältigenden Zorn in sich befrieden, der sich gegen die ganze Welt und gegen sie selbst richtet?
Adikou ist keine einfache Lektüre. Der Roman gleicht einem Kaleidoskop aus bunten Versatzstücken, bei dem sich die Leser*innen nie ganz sicher sind, an welchem Ort und in welchem Zeitstrang sie sich gerade befinden. Bezüge zu Persönlichkeiten aus Politik und Kunst wie etwa den algerischen Schriftsteller Frantz Fanon oder die Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone fügen weitere Facetten hinzu, die den postkolonialen Charakter der Erzählung unterstreichen. Adikou ist ein Coming-of-Age-Roman der besonderen Art, der sich nicht an gängige Konventionen hält und damit zweifellos seinen Reiz hat.
Die 1997 in Paris geborene Raphaëlle Red ist selbst Frankotogolesin und lebt heute in Berlin. Sie studierte Sozialwissenschaften, forschte zur Literatur der afrikanischen Diaspora und begann dann, literarisch zu schreiben. Ihr Debütroman Adikou erschien im Frühjahr 2024 in französischer Sprache.

Caleb Azumah Nelson: Den Sommer im Ohr
(Originaltitel: Small Worlds)
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Kampa Verlag, 2024.
304 Seiten.
Caleb Azumah Nelson: Den Sommer im Ohr
Musik spielt im zweiten Roman des 1993 in South East London geborenen britisch-ghanaischen Schriftstellers Caleb Azumah Nelson (Frei schwimmen) eine enorm wichtige Rolle. Nicht nur dem Ich-Erzähler Stephen ist sie Lebensbegleiter und Elixier, sie spielt auch für andere Figuren – die Freundin, den Vater, ja im Grunde die verschiedenen Communities, in denen sie sich alle, egal ob in London oder in der alten Heimat Ghana, bewegen – eine besondere Rolle.
Und weil die Musik so wichtig ist, hat der Züricher Kampa-Verlag praktischerweise einen QR-Code ins Impressum drucken lassen, der auf eine mehr als 75 Titel umfassende Playlist mit einer Laufzeit von rund sechseinhalb Stunden verweist. Sie reicht von Fela Kuti, Perkussionist Babatunde Olatunji, Hugh Masekela, Ebenezer Obey und Highlife-Größen wie Gyedu Blay Ambolley über Miles Davis und John Coltrane bis zu Bill Withers, Bob Marley, Lauryn Hill, Nas und Hip-Hop-Produzent DJ Dilla – und könnte noch um einiges länger ausfallen, wenn wirklich jeder im Buch erwähnte Song ergänzt wäre. Die Musik beim Lesen mitlaufen zu lassen, verspricht also doppelten Lesegenuss. Im Leben der Figuren (und auch ihrem Glauben) ist sie etwas, das ihnen Halt gibt.
Die drei Akte des Romans erzählen von den Jahren 2010 bis 2012, in denen der anfangs 18-jährige Protagonist viel Zeit auf Partys verbringt, Knatsch mit seinem Vater, der andere Erwartungen an den Sohn hat, bekommt und der vor der Entscheidung steht, was er aus seinem Leben machen soll. In der Beschreibung der in der Londoner Diaspora im Stadtteil Peckham lebenden afrika- und afrokaribikstämmigen Menschen wird man mit den Herausforderungen jener, die ausgewandert sind oder ihren Platz in der neuen Heimat finden müssen, ebenso konfrontiert, wie dem Kampf der Daheimgebliebenen, egal welcher Generation sie angehören. Azumah Nelson bringt die in einer poetischen, flüssigen und trotzdem leichten Sprache, die auch in Momenten von Schwermut und Traurigkeit von soghafter Kraft ist, zum Ausdruck.

Garry Disher: Funkloch
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 2023.
352 Seiten.
Garry Disher: Funkloch
Ein mysteriöser Auftraggeber lässt für 50.000 Dollar einen ausgemergelten Junkie beseitigen. Welches Geheimnis kannte der von Crystal Meth gezeichnete Tote? Wem war er im Weg? Inspektor Hal Challis ermittelt mit seinem Team.
Der Kriminalroman Funkloch entführt Lesende in die ländliche Einöde Südaustraliens, in eine Welt kalter Drogendealer und brandgefährlicher Buschfeuer, die tödlich auflodern können. Er zeigt die nervenaufreibende polizeiliche Ermittlungsarbeit, den Alltag in einer Dienststelle, die gleichzeitig einen perversen Vergewaltiger dingfest machen muss, bevor er eine weitere Frau in ihrer Wohnung überfällt, und in der Challis mit einer hochrangigen Drogenermittlerin aus der Hauptstadt Melbourne um Kompetenzen und Zuständigkeiten rangeln muss.
Funkloch ist der jüngste Kriminalroman der australischen Inspektor-Challis-Reihe von Garry Disher. Der Einstieg ist für Ortsunkundige etwas mühsam. Es gilt, ein Dickicht an Orten und Protagonisten, von denen ein Teil gleich wieder ermordet wird, mental zu verarbeiten. Ist dies aber gelungen, wächst eine spannende Geschichte aus dem australischen Gefilde. Die Fans von Disher werden auch diesmal mit seinen vielschichtigen Charakteren mitfiebern, mit den Polizist*innen, die in ihrer Arbeit aufgehen oder daran verzweifeln, die sich im Polizeialltag eingerichtet haben oder an Privatproblemen zu scheitern drohen. Seine Figuren sind lebendig, die Wendungen des Falles glaubwürdig und die Lösung ist überraschend.
Garry Disher stammt selbst aus Südaustralien und lebt auch dort. Der Autor, Jahrgang 1949, schreibt Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Sein Werk wurde für den Booker Prize nominiert und vier Mal mit dem Deutschen Krimipreis sowie zwei Mal mit dem Ned Kelly Award ausgezeichnet, dem wichtigsten australischen Krimipreis.

Meja Mwangi: Kasim, der Komiker
Aus dem Englischen übersetzt von Jutta Himmelreich.
Peter Hammer Verlag, 2023.
445 Seiten.
Meja Mwangi: Kasim, der Komiker
Meja Mwangi entführt seine Leser*innen nach Kenia. Dort bereitet der King’oo-Clan die Beerdigung des „großen Caesars“ vor, eines Politikers, der sich gegen Korruption und Machtmissbrauch gewehrt und Kindern aus armen Familien eine Ausbildung ermöglicht hat. Dementsprechend groß sind die Ansprüche der Hinterbliebenen an die Trauerfeier; der Kontrast zum finanziell Machbaren könnte, kurz nach der Corona-Pandemie, kaum größer sein, vor allem, als sich herausstellt, dass für die letzte Reise des Verstorbenen nur ein Mercedes in Frage kommt. Die Cousins Kasim und Salim, so beschließt es die Familie, sollen sich um das Fahrzeug und um hundert andere Dinge wie den Sarg, Todesanzeigen, einen Fotografen usw. kümmern. Unverdrossen ziehen der hartnäckige Komiker und der zielstrebige, aber glücklose Anwalt Morgen für Morgen los, trotz immer wieder neu auftauchender Hindernisse. Die Aufgabe scheint unlösbar und verlangt den beiden Youngsters vollen Einsatz und jede Menge Frustrationstoleranz ab.
Meja Mwangis schelmische Erzählung ist mal witzig, voller Wiederholungen, ermüdend oder schlichtweg zum Verzweifeln – gerade so, als säße man selbst mitten unter den palavernden, aber letztlich meist tatenlosen Angehörigen.
Der 1948 geborene Autor gilt neben Ngũgĩ wa Thiong’o als wichtigster kenianischer Schriftsteller. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis und den Adolf Grimme Preis. Mwangi arbeitet als freier Schriftsteller und als Drehbuchautor in Kenia, Europa und Westafrika.

Peter Papathanasiou: Steinigung
Peter Papathanasiou: Steinigung
Polar Verlag, 2023.
368 Seiten.
Peter Papathanasiou: Steinigung
Unerträgliche Hitze, aggressive Kängurus und teils misstrauisch, teils feindlich gesonnene Menschen bereiten Detective Seargent George Manolis alles andere als einen begeisterten Empfang, als er an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, um einen unfassbar brutalen Mord aufzuklären: Die beliebte Grundschullehrerin wurde an einen Baum gefesselt und gesteinigt aufgefunden. Für die meisten Ortsansässigen ist es eine ausgemachte Sache, dass die Schuldigen unter den Bewohner*innen des „Braunenhauses“, eines Internierungslagers für Geflüchtete, zu suchen sind. Und tatsächlich gehen im Lager merkwürdige Dinge vor sich.
Zusammen mit zwei ortsansässigen Polizist*innen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung und ihres Geschlechts ebenfalls zu den Außenseitern zählen, macht sich Manolis auf die Spurensuche, inmitten von Armut, Alkohol und Drogen. Der Autor schafft eine dichte Atmosphäre von Hoffnungslosigkeit und Gewalt, ohne dass die Grundstimmung allzu deprimierend wirkt, denn seine Protagonist*nnen setzen sich für eine bessere Zukunft ein – wobei auch sie sich ihrer Geschichte stellen müssen.
Peter Papathanasiou wurde 1974 in Griechenland geboren und als Baby von einer in Australien lebenden griechischstämmigen Familie adoptiert. Seine Großeltern waren aus der Türkei nach Griechenland vertrieben worden, sodass wahrscheinlich einiges an Migrationserfahrung aus der eigenen Familiengeschichte in den Roman mit eingeflossen ist. Papathanasiou hat einen Bachelorabschluss als Strafrechtler und einen Doktortitel in Biomedizin. Anders als viele der er in seinem Buch geschilderten Figuren glaubt er fest an die Vorteile kultureller Vielfalt. Es steht zu hoffen, dass auch der Fortsetzungsband „The Invisible“ bald ins Deutsche übersetzt wird.

Ayanna Lloyd Banwo: Als wir Vögel waren
Aus dem trinidad-kreolischen Englisch von Michaela Grabinger.
Diogenes Verlag AG, 2023.
352 Seiten.
Ayanna Lloyd Banwo: Als wir Vögel waren
Emmanuel arbeitet als Totengräber in einem Friedhof in Trinidad. Dem jungen Rastafari ist der Umgang mit Toten verboten, aber er hat sein Zuhause verlassen, um seinen Vater zu finden. Das Mädchen Yejide ist Medium und verpflichtet, mit den Toten zu kommunizieren. Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod begleitet sie die Geister ins Jenseits, spricht mit ihnen. Das Schicksal hat die Wege der beiden Außenseiter*innen fest miteinander verflochten. Und so beginnt dort, wo das Leben endet, eine magische Liebesgeschichte.
Es geht also in Als wir Vögel waren um kein geringeres Thema als um die Liebe und den Tod. Ayanna Lloyd Banwo nimmt die Lesenden dazu mit in die erfundene Stadt Port Angeles. Wer allerdings einen Roman mit karibischem Urlaubsflair erwartet, wird zwar enttäuscht, erfährt aber gleichzeitig Erstaunliches über Denken und Fühlen der Inselbewohner*innen.
Ayanna Lloyd Banwo, geboren 1980 in Trinidad, promoviert an der University of East Anglia in Creative and Critical Writing. Bisher erschienen von ihr vor allem Kurzgeschichten in verschiedenen Publikationen. Sie lebt in London. Als wir Vögel waren ist Banwos erster Roman.
In einem Interview beantwortet die Autorin die Frage, ob der Roman ein Liebesroman ist: „Es ist gleichzeitig eine Liebesgeschichte, eine Geistergeschichte, ein Thriller. Alle Geistergeschich- ten sind Liebesgeschichten. Wir trauern, weil wir diejenigen lieben, die wir verloren haben, und die Toten gehen nicht, weil sie die Menschen und das Leben, das sie zurückgelassen haben, lieben. Ich erzähle von vielen verschiedenen Arten von Liebe – zwischen Eltern und Kindern, Liebenden, Geschwistern, Freunden, zwischen den Lebenden und Toten. Es zeigt, wie gut es uns tut, sich um unsere Toten zu kümmern, um unsere Vorfahren. Das ist Liebe in ihrer höchsten Form.“

Nino Haratischwili: Löwenherzen
Illustrationen: Julia B. Nowikowa
Frankfurter Verlagsanstalt, 2024.
80 Seiten. Ab 9 Jahren.
Nino Haratischwili: Löwenherzen
Mit Zylinder, Luftschlangen und goldenem Konfetti lässt der neunjährige Anand seinen Löwen unter tosendem Applaus durch brennende Reifen springen. Doch der junge Zauberer steht nicht in einer Zirkusarena, sondern muss Plüschtiere in einer Fabrik in Bangladesch nähen. Um seinen Zirkustraum zu verwirklichen, schreibt er eine Nachricht an „Gott in Europa“ und versteckt diese im Bauch seines Löwen. Es ist der wichtigste Löwe, den er je genäht hat, denn auf dem Weg nach Europa wandert er durch verschiedene Länder und landet immer wieder in anderen Händen. Löwenherzen ist die Illustration des gleichnamigen Theaterstücks der georgisch-deutschen Theaterregisseurin und Autorin Nino Haratischwili als Bilderbuch. Fantasievoll wird davon erzählt, wie Kinder zum Beispiel mit Fluchterfahrungen und Heimatlosigkeit umgehen. Das Buch bietet auf 80 Seiten einen wirklich gelungenen Überblick über die verschiedenen Lebensrealitäten der Kinder. Der Löwe verbindet dabei die einzelnen Geschichten auf berührende Weise miteinander.