Im Schatten des Orangenbaums

Deutschland, Zypern, Palästina, Jordanien, Griechenland, Katar, Saudi Arabien 2025 Originaltitel: All that’s left of you
145 Minuten.
Regie: Cherien Dabis.
Mit: Saleh Bakri, Cherien Dabis, Adam Bakri, Maria Zreik, Mohammad Bakri u. a.
Start: 20. November 2025

 

Thomas Volkmann

Geschichte eines kollektiven Leidens

Als am 7. Oktober 2023 die Hamas Israel überfiel, hatte die palästinensisch-amerikanische Regisseurin Cherien Dabis gerade mit den Dreharbeiten zu ihrem Spielfilmporträt über eine im Westjordanland lebende Familie begonnen. Über drei Generationen hinweg verbindet sie komplexe historische Realitäten mit persönlichen Erinnerungen zu einer menschlichen und hoffnungsvollen Erzählung.

In einer langen Rückblende begibt sich der kürzlich in Stuttgart als Eröffnungsfilm des Arabischen Filmfestivals in Anwesenheit der Regisseurin gezeigte Film zunächst ins Jahr 1948 nach Jaffa, wo man im Zuge der Gründung des neuen Staates Israel Zeuge der Enteignung einer Familie in Jaffa wird, deren Stolz nicht allein nur in den köstlichen Früchten ihres Orangenhains zu finden ist. Nach der Umsiedlung ins Westjordanland widmet sich die Geschichte auch der nächsten und schließlich übernächsten Generation und ihren traumatischen Schlüsselerlebnissen in der Folge von Nakba (Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung 1948) und Intifada.

Als Teenager Noor in den 1980er Jahren bei einer Demonstration verletzt wird, begleiten ihn seine Eltern in ein israelisches Krankenhaus in Haifa, wo unerwartet neben dem bisher im Mittelpunkt stehenden politischen Thema und der Geschichte vom Leiden eines Volkes noch ein weiteres komplexes, in der Gesellschaft kontrovers diskutiertes Thema zur Sprache kommt, bei dem sich Vater und Mutter anfangs noch nicht einig sind. Um was es da geht, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: es geht um eine Entscheidung, die nicht nur der eigenen, vom Schicksal schwer getroffenen Familie Hoffnung und Heilung geben kann, sondern auch einen Weg zur Versöhnung verspricht.

Lolita lesen in Teheran

Lolita lesen in Teheran
Italien/Israel.
Originaltitel: Reading Lolita in Teheran.
108 Minuten.
Regie: Eran Riklis.
Mit: Golshifteh Farahani, Zar Amir Ebrahimi, Mina Kavani, Reza Diako, Lara Wolf u. a.
Start: 20. November 2025.

 

Thomas Volkmann

Der „Große Gatsby“ auf der Anklagebank

Golshifteh Farahani liefert in der Rolle der Literaturprofessorin Azar Nafisi in der autobiografischen Buchverfilmung "Lolita lesen in Teheran" eine starke Vorstellung. Erzählt wird, wie inmitten politischer Repression und religiöser Kontrolle das Lesen zu einem Akt der Selbstermächtigung wird und Frauen zum Reflektieren über Freiheit, Liebe und Identität inspiriert.

Als Azar Nafisi 1979 nach dem Ende der islamischen Revolution mit ihrem als Architekt tätigem Ehemann in ihre vermeintlich wieder freie Heimatstadt Teheran zurückmigriert, lässt der Anblick von Henry James‘ Roman Daisy Miller den Grenzbeamten bereits kritisch die Stirn runzeln. Wenig später sind es vor allem männliche Studierende, die mit der komplexen und komplizierten Liebe von F. Scott Fitzgeralds Romanfigur Jay Gatsby und dessen kapitalistisch unmoralischem, materialistischem Auftreten ein Problem haben. So kommt’s, dass Nafisi wenig später den Roman im Zeugenstand vor Gericht verteidigen muss. Als ihr literaturwissenschaftliches Institut schließen muss, verlagern sich Diskussionsrunden über Werke der westlichen Literatur ins Private zu ihr nachhause, wo sich eine Gruppe mutiger Frauen heimlich trifft, um verbotene westliche Literatur zu lesen – ein Akt der Selbstermächtigung, der die Frauen zum Reflektieren über Freiheit, Liebe und Identität inspiriert.

Ähnlich wie schon in Nafisis Buchvorlage hat auch der israelische Regisseur Eran Riklis seinen Film in nach Romantiteln und -figuren benannte Kapitel unterteilt. Während eines Gesprächs zwischen Nafisi und ihrem literarisch-philosophischen Mentor lässt Riklis kurzzeitig eine vorrevolutionäre Szenerie entstehen, in der Frauen noch ohne Kopftücher in Straßencafés sitzen und sich spannende Lektüre im gutsortierten Buchladen kaufen konnten.

The Secret Agent

Brasilien 2025.
Originaltitel: O Agente Secreto.
158 Minuten.
Regie: Kleber Mendonça Filho.
Mit: Wagner Moura, Maria Fernanda Cândido, Gabriel Leone, Udo Kier, Alice Carvalho u. a.
Start: 6. November 2025

 

Thomas Volkmann

Von Menschen und Haien

Die späten 1970er Jahre waren in Brasilien Zeiten der Unruhe, eine Militärdiktatur hatte das Sagen. Regisseur Kleber Mendonça Filho taucht mit "The Secret Agent" ein in diese Zeit, begleitet einen Mann auf der Flucht vor der Polizei und vor Auftragskillern. Er tut dies virtuos in der Form einer Erzählung, die erinnert an das Kino von New Hollywood und in der Zitierung damaliger Musik und ikonischer Filme. Vor allem tut er’s mit einem Augenzwinkern.

Ganz wohl ist es dem während des brasilianischen Karnevals in einem knallgelben VW-Käfer von São Paulo in die Küstenstadt Recife fahrenden Marcelo nicht, als er einen Tankstopp im Nirgendwo hat. Beunruhigend ist weniger die mit Pappe abgedeckte Leiche eines Mannes, die dort offenbar schon mehrere Tage zu liegen scheint, als die beiden Polizisten, die sich weniger für den Toten als für die Identität des Heimkehrers interessieren. Misstrauen jedenfalls steht in jenen Jahren auf der Tagesordnung.

Was als persönliche Reise aus dem Wunsch heraus, seinen kleinen Sohn zu sehen, beginnt, entwickelt sich bald zu einem gefährlichen Spiel im Schatten der Militärdiktatur. Angekommen in Recife nimmt Marcelo Kontakt zu einer Community auf, die Flüchtige, darunter auch aus Angola, vor dem Regime versteckt und sie mit neuen Pässen ausstattet. Viele von ihnen leben bereits unter Decknamen.

Dass dieser Paranoia-Thriller nach mehr als der Hälfte plötzlich in die Gegenwart springt und zwei Studentinnen zeigt, die in Gesprächsprotokollen auf Kassetten ein Bild dieser hitzigen Periode machen, gehört ebenso zu den Kniffen der Regie wie die wiederholte Erwähnung des Films Der weiße Hai, wobei in der Forensik einer Polizeistation ein getöteter Hai mit einem Menschenbein im Magen für leichtes Gruseln sorgt und im TV ein gefesselter Zeichentrickheld Popeye über einem gefräßigen Killerfisch baumelt. Unmissverständlich zum Ausdruck kommt auch, dass bis hinauf in oberste Polizeikreise menschliche Haifische schwimmen.

Kleber Mendonça Filho ist ein grandioser und bis zuletzt spannender brasilianischer Genrefilm gelungen. In Cannes wurde O agente secreto mit vier Preisen ausgezeichnet, darunter für die beste Regie und Wagner Moura als bestem Darsteller.

Solidarity

Deutschland/Schweiz 2025 (Dokumentarfilm)
90 Minuten
Regie: David Bernet
Mit: Marta Siciarek, Christine Goyer, Gillian Triggs, Filippo Grandi, Bashshar Haydar u. v. m.
Start: 25. September 2025
Farbfilm Verleih

 

 

Thomas Volkmann

Ein schmaler Grat zwischen Verbindung und Spaltung

Solidarität ist ein großes Wort, nicht immer und nicht für jede*n meint sie das Gleiche. Sie kann als universeller Anspruch verstanden werden, sich um alles Lebendige zu kümmern, sie kann aber auch zu Ausgrenzung führen oder sich in einen Aufruf zu Gewalt verwandeln. Der deutsch-schweizerische Dokumentarfilmregisseur David Bernet hat sich für seinen Film "Solidarity" die Frage gestellt, wie weit Solidarität reicht.

Die Protagonist*innen seiner Recherche hat Bernet in Organisationen gefunden, die auf verschiedenen Ebenen Solidararbeit leisten. Die in Danzig lebende Polin Marta Siciarek etwa engagiert sich an der Grenze zu Belarus dafür, dass an auf der Flucht ums Leben gekommene Migrant*innen mit einem Grabmal erinnert wird. Zusätzliche Brisanz erfährt der Film durch den während der Dreharbeiten ausgebrochenen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Mit Mitarbeitenden des Internationalen Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) geht’s auch in Lager in der Bekaa-Ebene im Libanon, ein Philosoph in Beirut spricht über den Aspekt der Verbindung und weshalb die einen sich mit einer Sache solidarisieren oder sich von ihr abwenden.

„Es ist schwer vorstellbar, dass angesichts der neuen Brachialität autoritärer Bewegungen und der opportunistischen Aneignung dieser Brachialität auch durch demokratische Parteien die Welt heute in der Lage wäre, so etwas wie universelle Menschenrechte zu erfinden. Umso wichtiger ist es, uns zu vergegenwärtigen, was die Basis der Menschenrechte ist: Ein einzigartiges Verständnis für ‚globale Solidarität‘, für alle Menschen in Not, eine Solidarität, die über die Grenzen der Familie, der Gemeinschaft, der Kultur oder Nation hinausreicht und die nur existiert, wenn man sie wählt“, hält Regisseur Bernet fest. Denkanstöße zum interkulturellen Zusammenleben aufgrund von Migration gibt diese Doku.

 

Das tiefste Blau

Brasilien, Mexiko, Niederlande 2025 Originaltitel: O Último Azul
85 Minuten
Regie: Gabriel Mascaro
Mit: Denise Weinberg, Rodrigo Santoro, Miriam Socarrás, Adanilo u. a.
Start: 25. September 2025
Verleih: Alamode Film

© Guillermo Garza Desvia (Alamode Film)

Thomas Volkmann

Abgeschoben mit Auszeichnung

Auch wenn’s in der Wirklichkeit Brasiliens und auch anderer Länder dieser Welt eine staatlich verordnete Abschiebung in eine Seniorenkolonie (und damit Verbannung aus dem bisherigen Leben) noch nicht gibt – ganz ausschließen, dass irgendein Despot auf genau diese Idee kommen könnte, lässt sich ein solches Szenario nicht. In Gabriel Mascaros auf der Berlinale 2025 mit dem Jurypreis ausgezeichneter Gesellschaftsdystopie "Das tiefste Blau" steht aber genau diese Prämisse im Raum.

Tereza, eine rüstige Frau von 77 Jahren, wird eines Tages überrumpelt von der Nachricht, dass die Zwangsverlegung in ein solches Lager nicht erst mit Erreichen des 80. Lebensjahres beginnt, sondern neuerdings schon mit 75. Behördenmitarbeitende überbringen ihr aus diesem Grund eine Auszeichnungsurkunde, ihr Firmenchef zahlt ihr den letzten Lohn aus. Wer bei Ausweiskontrollen die Altersgrenze überschritten hat, landet unter Umständen wie ein*e Verbrecher*in im Käfigwagen.

Tereza will diese Verordnung nicht hinnehmen. Noch hat sie, die sich ein Leben lang mit zwei Jobs über Wasser hielt, Träume, denen sie folgen möchte. Also macht sie sich auf, lässt sich von einem kauzigen Schmuggler auf dem Amazonas begleiten – und hat auf dieser Reise so einige ungewöhnliche Begegnungen. So wohnt sie zum Beispiel Spektakeln bei, bei denen exotische Fische ähnlich Hahnenkämpfen für Sportwetten herhalten müssen.

Dem Regisseur geht es mit seiner in keiner Phase düsteren, sondern vornehmlich heiter und entspannt sich entspinnenden Dystopie nicht um eine Systemkritik, sondern um eine feinhumorige Allegorie auf das Leben im Alter, gleichsam den Wunsch nach Freiheit und Widerstandsfähigkeit. Anspielungen auf Altersdiskriminierung und das Agieren autoritärer Strukturen finden sich nur unterschwellig.

Die in ihrer brasilianischen Heimat bekannte Darstellerin Denise Weinberg überzeugt mit einer lebenslustigen und geerdeten Performance. Freuen darf man sich insbesondere auch über eine Fülle magischer Bilder aus Ecken Brasiliens, die zeigen, wie wichtig es ist, die dortige Natur zu bewahren.

Briefe aus der Wilcza

Polen/Deutschland 2025
(Dokumentarfilm)
Originaltitel: Letters from Wolf Street
97 Minuten
Regie: Arjun Talwar
Mit: Piotr Chadryś, Mo Tan, Feras Daboul, Barbara Goettgens, Oskar Paczkowski u. v. m.
Start: 16. Oktober 2025
Verleih: Barnsteiner Film

Fotos: © Barnsteiner Film

Thomas Volkmann

Den Nachbarn auf den Zahn gefühlt

Mit einem Freund aus Delhi entscheidet sich Filmemacher Arjun Talwar, in Polen zu studieren. Mit seinen Afrolocken ist der Inder ein Exot in Warschau. Und er ist neugierig. Zwölf Jahre nach seiner Ankunft versucht er für seinem Dokumentarfilm 'Briefe aus der Wilcza' herauszufinden, wie die Polen so ticken und über Migrant*innen in ihrem Land denken.

Die Straße, in der er wohnt, bietet ihm bereits eine Fülle an Begegnungen. Er besucht eine Feier anlässlich des Unabhängigkeitstages, schwenkt dabei auch probeweise die polnische Flagge. Er findet mit Graffities besprühte Wände, die „Polen für die Polen“ fordern, begegnet aber auch Bürger*innen, die Verständnis haben für Migrationsbewegungen („Wir wandern ja auch in andere Länder aus, um dort zu arbeiten“). Zugleich dokumentiert er, wie sich sein Viertel, in dem quasi in jedem Hinterhof eine eigene Heiligenfigur zu stehen scheint, im Zuge der Gentrifizierung verändert.

Talwar befragt dabei immer wieder auch sich selbst, versucht zu verstehen, warum sein indischer Freund an der polnischen Diaspora verzweifelt ist und sich das Leben nahm. „Hier Ausländer zu sein fühlt sich an wie ein Abenteuer“, sagt Talwar. Dass ihn ein Roma, den er am Rande einer CSD-Parade trifft (und nichts ahnend vom bunten Spektakel auf einen Bus gewartet hatte), zum „Familienmitglied“ erklärt, verblüfft den Filmemacher. Eine nette Freundschaft scheint sich da anzubahnen. Talwar recherchiert mit einer gesunden Mischung aus Humor und Melancholie und kommt am Ende zum Schluss, dass es doch spannend sein könnte, wenn auch an anderen Orten, an denen Einheimische und Migrant*innen zusammenleben, jede Straße jeweils eigene Chronist*innen hätte. Einfach mal auf die Nachbar*innen zugehen und sich für sie interessieren, würde schon viel zur Völkerverständigung in einer sich rasant verändernden Welt beitragen.

Bitter Gold

Chile, Mexiko, Uruguay, Deutschland 2024
Originaltitel: Oro Amargo, 83 Minuten
Regie: Juan Francisco Olea
Mit: Katalina Sánchez, Francisco Melo, Michael Silva, Daniel Antivilo, Moisés Angulo u. v. m.
Filmstart: 21. August 2025
jip film & verleih

Thomas Volkmann

Glückauf in einer gesperrten Mine

Minenarbeit ist Männersache. In Juan Francisco Oleas Neo-Western, einer chilenisch-deutschen Co-Produktion, muss nun die Tochter eines Grubenführers in die Stollen steigen, nachdem ihr Vater bei einem Zwischenfall verletzt worden ist. Doch statt in dunklen Höhlen herumzukraxeln und nach Erzen zu suchen, träumt die 16-Jährige von einem Leben am Meer.

Früher wären sie vielleicht reitend auf dem Rücken eines Pferdes zur Arbeit erschienen. Bei Juan Francisco Olea kommt der (besoffene) Taglöhner mit dem Fahrrad zum Treffpunkt inmitten der weiten, sandigen und bergigen Atacama-Wüste im Norden Chiles. Auf der Ladefläche eines Pick-Up geht’s zur Mine. Die Arbeit ist hart, wird schlecht bezahlt. Die Laune hebt das nicht. Es scheint absehbar, dass der Taglöhner Stress machen wird. Als die 16-jährige Carola ihren Vater eines Nachts in eine gesperrte Mine, in der er Gold vermutet, begleitet, ahnen sie nicht, dass Troubleshooter Humberto ihnen folgt. Und zwar mit gravierenden Folgen. Vorübergehend muss Carola das Kommando für den väterlichen Arbeitstrupp übernehmen. Nicht leicht in einer Gesellschaft, in der Männer der Meinung sind, die Frau gehöre an den Herd. Tatsächlich aber ist genau dies zunächst Carolas Job, indem sie den Männern das Mittagessen zubereitet. Nachdem der Vater ausfällt, tun sich die Arbeiter schwer, Befehle und Arbeitsanweisungen von ihr anzunehmen. Und noch komplizierter wird es, als die Abwesenheit des Vaters und auch das Verschwinden von Humberto dauerhaft verheimlicht werden müssen und weitere unangenehme Zeitgenossen aufkreuzen.

Der tonangebende Konflikt dieses eine feministische Perspektive einnehmenden Dramas ist schnell gesetzt. Umso mehr lässt sich Regisseur Olea anschließend Zeit, den sich vor allem innerlich vollziehenden Kampf der jungen, sich gegen patriarchalische Strukturen und brutale Gesetze widersetzenden Frau und wie diese einen Schlüssel zur Selbstermächtigung für ein neues Leben findet, zu schildern. Die Ökumenische Jury des Filmfestivals von Warschau, bei dem Bitter Gol“ im Zuge seiner Weltpremiere 2024 einen Preis gewann, verglich die tiefgreifenden Veränderungen mit der Auferstehung Christi aus den Tiefen der Hölle hinab, um daraus gestärkt hervorzugehen. Weiter hieß es in der Begründung: „Manchmal können die schlimmsten Tragödien zu Chancen werden.“ Zur Atmosphäre des Films tragen neben der spannenden Dramaturgie auch Bilder großartiger Landschaften und ein moderner, von Electrosounds untermalter Score bei. Schön am Ende, dass im Angesicht des Unmöglichen die Hoffnung bleibt. Das Bild eines durch die Wüste fahrenden Motorrades bringt dies treffend zum Ausdruck.

Klandestin

Deutschland 2024, 124 Minuten
Regie: Angelina Maccarone
Mit: Barbara Sukowa, Lambert Wilson, Banafshe Hourmazdi, Habib Adda, Katharina Schüttler
Start: 24. April 2025
Verleih: Farbfilm

Thomas Volkmann

Klandestin

Vier Menschen, vier Biografien: in Angelina Maccarones zeit- und gesellschaftspolitischem Thriller Klandestin kreuzen sich ihre Wege, teils unfreiwillig, teils ungeplant. Im Kern geht es um eine Haltung zur Frage von Einwanderung und das Verfolgen von Lebensträumen. Maccarone hat ihren Film in Kapitel unterteilt, in denen die Erzählung jeweils die Perspektive von einer der vier Figuren einnimmt. Im ersten gelingt es dem jungen Marokkaner Malik (Habib Adda), sich im Lieferwagen des britischen Künstlers Richard (Lambert Wilson) zwischen Gemälden zu verstecken und unerkannt nach Frankfurt zu gelangen, wo Richard zu einer Ausstellung eingeladen ist. Mathilda (Barbara Sukowa), eine Freundin des Künstlers, lässt sich breitschlagen und gewährt Malik Unterschlupf, wissend, dass dies sie als gegen illegale Einwanderung eintretende Europa-Politikerin in Schwierigkeiten bringen könnte. Ihre junge Assistentin Amina (Banafshe Hourmazdi), in Deutschland als Kind marokkanischer Eingewanderter aufgewachsen, kommentiert das Versteckspiel immer wieder mit kritischen Blicken.
Mit zur Spannung trägt bei, dass Videokameras im städtischen Raum Bilder von Malik festhalten und ihn mit Personen zeigen, die im Verdacht stehen, einen Terroranschlag verantwortet zu haben. Dabei geht es ihm um nicht mehr als schnell nach Berlin zu gelangen, wo er sich als Rapper verwirklichen will. In den Medien wird der Anschlag derweil zum Anlass genommen, über die Arbeit von Frontex und die Wirksamkeit von Pushbacks an den Grenzen zu debattieren. In der Begegnung zwischen der konservativen Europaabgeordneten Mathilda und Malik treten neben der offenkundigen Symbolik „altes Europa versus arabischer Frühling“ auch Grautöne zutage.
Durch die Verschiebung der Blickwinkel werden Geheimnisse, die die Figuren voreinander haben, nach und nach enthüllt, ihre Sehnsüchte offenbart, Vorurteile gegeneinander ausgespielt und wie in einem Puzzle zu einem vielschichtigen Gesamtbild zusammengefügt. Letztlich sind alle vier in ihrer Einsamkeit und Entwurzelung untergründig verbundener als sie ahnen. Angelina Maccarone, Tochter eines Italieners und einer Deutschen, entwirft ganz nebenbei auch ein Bild einer gespaltenen Gesellschaft und einer globalisierten Welt, in der scheinbar unverbundene Schicksale auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Niemand kann sich entziehen, alle sind gefordert, Stellung zu beziehen.

Die Barbaren – Willkommen in der Bretagne

(Originaltitel: Les Barbares)
Frankreich 2024, 101 Minuten
Regie: Julie Delpy
Mit: Julie Delpy, Sandrine Kiberlain, Laurent Lafitte, Zied Bakri, Jean-Charles Clichet, Rita Hayek, India Hair u.v.m.
Start: 26. Juni 2025
Verleih: Weltkino

tv

Wählerische Gastgeber

Wer genau hinschaut, wird in Julie Delpys Culture-Clash-Komödie Die Barbaren –Willkommen in der Bretagne viele Figuren, Grabenkämpfe und Alltagssituationen erkennen, die typisch sind für Geschichten aus dem Gallierdorf von Asterix und Obelix. Bei Delpy sorgt nun die Ankunft einer syrischen Familie für ordentlich Aufregung unter den Bewohner*innen. Denn erwartet hätten sie viel lieber ukrainische Geflüchtete.  Den Akt der gemeinschaftlichen Solidarität lässt nach Abstimmung durch den Gemeinderat der bretonischen Provinzgemeinde Paimpont der Bürgermeister bereits medienwirksam festhalten, selbst der nationalistisch eingestellte Klempner hat die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine abgenickt. Doch dann stellt sich heraus: es gibt wohl einen „Lieferengpass“, wie es heißt, seien die in Frankreich angekommenen Ukrainer*innen bereits verteilt auf andere Städte und Gemeinden. „Sie sind heiß begehrt auf dem Markt“, kommentiert dies der Bürgermeister mit einem verlegenen Schulterzucken – um nachzuschieben: „Zu uns kommt stattdessen nun eine syrische Familie.“

„Dafür haben wir nicht gestimmt“, melden sich prompt die ersten, betonen zugleich aber, grundsätzlich ja nichts gegen „Araber“ zu haben, wobei sich der Metzger sorgt, sie würden seine Wurst nicht kaufen. Andere stört bereits die Aussicht auf verschleierte Frauen, andere fürchten eine Invasion an Terroristen. Dass die Frauen der sechsköpfigen Familie Fayad keinen Schleier haben, ist dann aber ebenso verdächtig. Französisch haben sie bereits im Aufnahmelager ganz gut gelernt, kennen aus Damaskus sogar noch die Chansons von Dalida. Ihre Integrationswilligkeit wird zunächst komplett ignoriert.

Julie Delpy, die nicht nur Regie führte und auch am Drehbuch mitwirkte, spielt eine Lehrerin, die klar auf Seiten der Neuankömmlinge steht. Andere Figuren sind da wankelmütiger, was teils zu unterhaltsamen Konflikten untereinander führt, gleichzeitig deren menschliche Schwächen wie Vorurteile und fehlende Toleranz entlarvt. Auch was die syrische Familie an Traumata erlebt hat, wird angeschnitten. Delpy verliert dabei nie die Empathie für ihre Protagonist*innen, weshalb die satirisch überzeichneten Klischees zugleich als kritische Reflexion verstanden werden können. Aufgeteilt ist die Komödie in fünf Akte, die jeweils mit der Abbildung historischer Unterdrückungs- und Befreiungsszenen aus der reichhaltigen französischen Kolonialgeschichte beginnen. In Summe liefert der Film ein ebenso unterhaltsames wie überzeugendes Plädoyer für Menschlichkeit und ein friedliches Zusammenleben.

Black Tea

Frankreich, Mauretanien, Luxemburg, Taiwan, Côte d‘Ivoire 2024, 111 Minuten
Regie: Abderrhamane Sissako
Mit: Nina Mélo, Chang Han, Wu Ke-Xi, Michael Chang
Start: 19. Mai 2025
Verleih: Pandora Film

tv

Ein neues Leben in Chocolate-City

Eine Frau hat den Mut und verweigert am Tag ihrer Hochzeit das Ja-Wort. Ihre Zukunft sieht sie nicht in ihrer Heimat Elfenbeinküste, sondern in der chinesischen Diaspora. In Abderrhamane Sissakos Black Tea arbeitet sie in der Millionenstadt Guangzhou, wo bereits eine größere afrikanische Community lebt, als Verkäuferin in einem Teegeschäft – und fühlt sich bald schon vom chinesischen Ladenbesitzer angezogen. Guangzhou war und ist aufgrund seiner Lage am Perlfluss-Delta unweit des Südchinesischen Meeres der Ausgangspunkt der „Seidenstraße auf dem Meer“. 1711 errichtete die Britische Ostindien-Kompanie hier einen Handelsposten. Tee mag dabei ganz sicher eine Rolle gespielt haben. Für die Wirtschaft ist die Region heute Chinas Tor zur Welt und gilt als Marktplatz für chinesische Billigware, die dort eingekauft und nach Afrika verschifft wird. Chinas fehlende Tradition als Einwanderungsland erschwert dabei jedoch die Integration und begünstigt Rassismus. So bezeichnen Einheimische das afrikanische Viertel von Guangzhou spöttisch als „Chocolate City“ – was gelegentlich auch in Szenen von „Black Tea“ zum Ausdruck kommt. So richtig aus dem Vollen schöpfen kann der in Mauretanien geborene und in Mali aufgewachsene Regisseur Abderrahmane Sissako hier allerdings nicht, wurde ein Großteil an Szenen doch in Taiwan gedreht, was dem Ansinnen, von der afrikanischen Diaspora in China zu erzählen, in diesem Punkt klar entgegenläuft. Sissako macht dies aber mit wundervollen, mal farbenfrohen Bildern von Natur und Teeplantagen, dann wieder nächtlichen Lichterstimmungen in der Stadt, wieder wett. Manchmal erinnern Szenen gar an Wong Kar-Wai.

Auf der Handlungsebene dieses feinfühligen Films steht die interkulturelle Romanze im Vordergrund. Bemerkenswert ist immer wieder, wie die zeremoniell Teezubereitung inszeniert wird. Die sich leise anbahnende Beziehung zwischen den beiden Teeliebhabern wird in Anbetracht einer geheimnisvollen Vergangenheit des Chinesen sowie der Vorurteile anderer auf eine harte Probe gestellt. In Summe ist Black Tea ein poetisches Liebesdrama, durchwoben von Menschlichkeit und einer tiefen Liebe zu seinen Figuren – und versehen mit einem Blick auf die Verflechtung der Kulturen in unserer heutigen globalisierten Welt.

Quiet Life

Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Schweden 2024, 100 Minuten
Regie: Alexandros Avranas
Mit: Fernanda Torres, Selton Mello, Fernanda Montenegro Chulpan Khamatova, Grigory Dobrygin, Naomi Lamp u. a.
Start: 24. April 2025
Verleih: von Wild Bunch

Quiet Life erhielt 2024 den Publikumspreis bei den 66. Nordischen Filmtagen und wurde beim Geneva International Film Festival mit dem Future Is Sensible-Award ausgezeichnet.

Thomas Volkmann

Quiet Life

Gut hat sie sich integriert in ihrem neuen Zuhause in Schweden, die russische Familie in Alexandros Avranas Einwandererdrama Quiet Life. Dann jedoch wird ihr Asylantrag abgelehnt – und die jüngste Tochter fällt in ein rätselhaftes Koma. Dieses wird als „Resignationssyndrom“ diagnostiziert, eine Krankheit, die in Schweden offiziell anerkannt ist. Zuckerbrot und Peitsche: zunächst sind die Behörden voll des Lobes, als sie die Eltern Sergei und Natalia sowie ihre Töchter in deren vier Wänden besuchen. Die Kinder kommen in der Schule, im Chor und beim Sport gut mit, sind sprachlich voll angekommen, sogar über schwedische Vornamen machen sie sich schon Gedanken. Zur endgültigen Bewilligung der Asylanträge aber fehlen dem Migrationsamt noch Beweise, dass Vater Sergei seinem Herkunftsland tatsächlich aufgrund politischer Verfolgung und psychischer Drangsalierung den Rücken gekehrt hat. Seine Narbe am Oberkörper ebenso wie die mündlichen Aussagen reichen nicht, in Verhören werden die Familienmitglieder in die Mangel genommen. Die Jüngste nimmt das Prozedere und die Aussicht, ausgewiesen und abgeschoben zu werden, besonders mit: Sie fällt ich ins Koma.
Dieses Krankheitsbild ist der Ausgangspunkt dieses kühl und distanziert,
ja fast klinisch gehaltenen Migrationsdramas. Als Resignationssyndrom wurde es diagnostiziert und gilt seit 2014 in Schweden tatsächlich als anerkannte, auch als „Dornröschenschlaf“ bezeichnete Krankheit, von der seit Beginn der 2000er-Jahre Hunderte an Flüchtlingskindern betroffen waren.
Das rätselhafte Symptom trat vornehmlich bei Kindern aus dem Kosovo, aus Serbien, Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgistan auf.
Im Spielfilm des Griechen Alexandros Avranas verkompliziert sich die Lage für die russische Familie derart, dass ihr zeitweise sogar die Besuchsrechte im Krankenhaus entzogen werden. Geradezu absurd mutet an, wie psychotherapeutisch versucht wird, den in ihrer Situation gefangenen Eltern wieder ein Lächeln beizubringen.
Die kühle Ausstattung des Films passt dabei gut zum Ohnmachtscharakter der Geschichte, die wachsende Verzweiflung äußert sich bei den Darsteller*innen in leisen Gesten und einer Mimik, die gerade durch ihre kontrollierte Zurückhaltung fasziniert – und eben dadurch ihre Wirkung nicht verfehlt.

Caught by the Tides

Originaltitel: Fengliu Yidai
China 2024, 111 Minuten.
Regie: Jia Zhang-ke
Mit: Zhao Tao, Li Zhubin
Start: 15. Mai 2025
Verleih: Rapid Eye Movies

Thomas Volkmann

Caught by the Tides

China hat sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts stark verändert. Es gibt Regionen, in denen Menschen umgesiedelt worden sind, ihre Städte abgerissen und neue gebaut wurden. Regisseur Jia Zhang-ke hat in „Caught by the Tides“ altes und neues Filmmaterial genutzt, um daraus ein Zeitporträt über ein Paar und wie es den Wandel miterlebt hat, zu schneiden.  „Nicht mal Buschfeuer vernichtet Unkraut/im Frühling wächst es wieder neu.“ Was sich als Liedzeile poetisch liest, lässt Zhang-ke zu brachial bretterndem Death-Metal von der chinesischen Band Brain Failure aus den Boxen schmettern, ehe die Kamera in einer längeren Sequenz Arbeiterfrauen dabei filmt, wie sie Spaß beim Singen traditioneller Lieder haben – und dabei nicht selten kichern müssen. Der Einstieg hat etwas Dokumentarisches, so wie überhaupt das aus den Jahren 2001, 2006 und 2022 stammende Bildmaterial eine unübersehbare Chronistenfunktion übernimmt und den Wandel der Zeit, insbesondere die Veränderungen hinsichtlich von Wirtschaft und Ökonomie und von Technik im Alltag, sichtbar macht. Dabei findet sich auch Kurioses im Footage-Material, etwa ein Typ in einer Diskothek, der sich an Ketten hängende und randvoll befüllte Wassereimer mit Haken an die Augenlider hängt und eine für ihn garantiert nicht schmerzfreie Gewichthebeübung vollbringt. Festgehalten sind aber auch historische Momente wie die Freude des Volkes über die erfolgreiche Olympia-Bewerbung für Peking. Je nachdem, welche Kameras und Aufnahmetechnik Zhang-ke nutzte, wechselt im Bilderreigen auch schon mal das Bildformat. Verwendung fanden auch Fotografien von Reisenden in einem Zug.

Als loser Faden für eine Handlung dient die Beziehung des Paares Qiaoqiao (gespielt von Zhao Tao, der Frau des Regisseurs) und Bin (Zhubin Li). Der Arbeiter macht sich von der dem Niedergang geweihten Kohlebergbaustadt Datong auf, um andernorts sein Lebensglück zu finden. Dialoge braucht es kaum, dafür fällt aber auf, wie sich über den Einsatz von Musik etwas über Vergangenheit und Gegenwart sowie damit verbundene und erlebte Emotionen ausdrücken lässt.

Wenn das Leben ein langer großer Fluss ist, dann ist dieser Film die Reise in Richtung eines Meeres der Möglichkeiten über Gezeiten wie Ebbe und Flut hinweg. Unterwegs begegnet man in diesem Film immer wieder auch anderen Figuren und Menschen aus früheren Werken des Regisseurs.