Fernanda Melchor: Das hier ist nicht Miami

Crónicas
Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar.
Verlag Klaus Wagenbach, 2025.
160 Seiten.

Ausgabe: Oktober 2025

Fernanda Melchor: Das hier ist nicht Miami

Fernanda Melchors Das hier ist nicht Miami ist ein Buch, das sich weigert, die Wirklichkeit zu beschönigen oder sie in glatte Narrative (sinnstiftende Erzählungen, die Einfluss auf die Art haben, wie die Umwelt wahrgenommen wird, Anm. d. Red.) zu pressen. Stattdessen zieht es die Leser*innen mitten hinein in die brodelnde Realität von Veracruz – einer Stadt, die zugleich Bühne, Abgrund und Resonanzkörper für Gewalt, Mythen und Hoffnungen ist.

In den Crónicas — jener spezifisch lateinamerikanischen Mischform aus Reportage, persönlichem Zeugnis und literarischer Verdichtung — entfaltet sie ein Panorama von Stimmen, das so vielstimmig wie erschütternd ist. Da ist Miguel, ein Rentner, der sich seine Miete nicht mehr leisten kann; da sind überfüllte Gefängnisse, in denen Häftlinge im Stehen schlafen müssen; da sind Kinder, die ungeschützt bleiben, Frauen die Opfer misogyner Gewalt werden, und Familien, die an der Last von Armut, Drogen und Gangstrukturen zerbrechen.

Melchor erzählt von Lynchjustiz und Exorzismen, von korrumpierten Justizprozessen und einem Sozialsystem, das längst zusammengebrochen ist. Doch sie bleibt nicht bei der bloßen Beschreibung stehen. Das hier ist nicht Miami ist ein radikaler Versuch, den Mechanismen der Gewalt auf den Grund zu gehen. Melchor zeigt, wie ökonomische Krisen, Narco-Herrschaft und tiefverwurzelte Vorurteile dazu führen, dass Verbrechen nicht Ausnahme, sondern Alltag werden.

Die Stärke dieser Crónicas liegt in ihrer Vielschichtigkeit: Jede Geschichte ist eine andere Perspektive, ein anderes Leben, eine andere Form, der Gewalt ausgesetzt zu sein — und zusammen ergeben sie ein Mosaik, das weit über Veracruz hinausweist. Angelica Ammars Übersetzung bewahrt dabei Melchors kraftvolle, unnachgiebige Sprache, die zwischen dokumentarischen Ton und literarischer Wucht changiert. Das hier ist nicht Miami ist keine True-Crime-Lektüre und kein exotisches Schreckenspanorama, sondern eine literarische Chronik sozialer Realitäten. Es ist ein Buch über Armut, Machtmissbrauch und Korruption — aber auch über die Notwendigkeit, Geschichten zu erzählen, um dem Schweigen der Institutionen etwas entgegenzusetzen.