
Aleida Assmann
Impulsvortrag
im Rahmen von:
Leitlinien –
Präsentation der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur
Mo, 23. Juli 2025, 17 Uhr
Städtisches Lapidarium, S-Süd
Aleida Assmann im Interview
Eine Erinnerung darf die andere nicht ausschließen
Sie haben einmal gesagt „Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft“. Welchen Beitrag leistet kollektives Erinnern für die Zukunft unserer Gesellschaft?
An der Zukunft müssen wir arbeiten, seit klar geworden ist, dass das dauerhafte Fortschrittsversprechen ein Trugschluss war. Seither ist die Vergangenheit wichtiger geworden. Sie enthält wichtige Ressourcen aus der Vergangenheit, birgt aber auch Lasten, die sich nicht von selbst auflösen, sondern auch noch nachträglich der Bearbeitung bedürfen. Das positive Erbe nannte Thomas Mann „In Spuren gehen“; das negative Erbe nennen wir Traumata.
Wir leben in einer von Diversität geprägten Gesellschaft: Wie ist kollektives Erinnern möglich, wenn Geschichte viele Perspektiven einschließt und nicht alles für alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen Bedeutung hat?
In einer pluralistischen und von Migration geprägten Gesellschaft gibt es keine einheitliche Erinnerung, sondern viele Vergangenheiten und Herkunftsgeschichten.
Anschluss finden an die Erfahrung des jeweils anderen
In Deutschland geht es nicht nur darum, für die Eingewanderten Zugänge zur Holocausterinnerung zu öffnen, sondern auch darum, dass die Menschen mit deutscher Herkunft Anschluss an die koloniale Erfahrung der aus Afrika Eingewanderten gewinnen. Auf keinen Fall darf eine Erinnerung die andere ausschließen, sonst können sich die Ausgeschlossenen nicht als Bürger*innen dieses Staats verstehen.
Das Erinnern an Geschichte von an den Rand gedrängten Personengruppen erhält oft vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Wie ist es möglich, dass auch dieses Erinnern – zum Beispiel die Geschichte der sogenannten „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterinnen“ – in das kollektive Gedächtnis in Deutschland Einzug findet?
Für die Vielstimmigkeit der Gesellschaft wäre es produktiv, die Migrationserfahrung zu einem Leitthema der Erinnerungskultur zu machen und dabei alle Gruppen einzubeziehen, die lernen mussten, in einer zweiten Heimat Fuß zu fassen: die Vertriebenen, die sogenannten Gastarbeiter und die Migranten. Ihr Beitrag zur Gesellschaft könnte damit gewürdigt und es könnten Verbindungen zwischen diesen Gruppen und ihren Erfahrungen hergestellt werden.
Was brauchen wir, damit Erinnerungskultur – also vereinfacht: die öffentliche Vermittlung der vergangenen Erfahrungen an die Nachwelt – in Deutschland zukunftsfähig wird?
Die Erfahrungen, die Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs gemacht, waren nicht nur zukunftsfähig, sondern zukunftsgründend. Wim Wenders hat darüber einen Kurzfilm gedreht mit dem Titel: Die Schlüssel zur Freiheit. Sie sind auch der Anker unserer Erinnerungskultur: der Rechtsstaat, das Grundgesetz und die Mitgliedschaft in der EU.