Vernesa Berbo: Der Sohn und das Schneeflöckchen

Frankfurter Verlagsanstalt, 2025.
448 Seiten.

Ausgabe: November 2025

Vernesa Berbo: Der Sohn und das Schneeflöckchen

„Eines Abends gingen wir im Frieden ins Bett und wachten morgens im Krieg wieder auf…“ Wie erzählen vom Ungeheuerlichen? Von dem Schrecken, der nicht namenlos ist, weil er die Gesichter unserer Nachbarn, unserer Kollegen, unserer Freunde trägt. Wie erzählen vom Jugoslawienkrieg? Und von der Zeit danach, als wieder Frieden ist, und trotzdem nicht alles wieder gut?

Vernesa Berbo gelingt dies in ihrem Roman Der Sohn und das Schneeflöckchen anhand von zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die ältere Tochter die meisten Dinge geradewegs angeht und „Sohn“ genannt wird, lässt die Jüngere („Schneeflöckchen“) sich durch das Leben treiben. Die Schwestern sind namensgebend für den wenig aussagekräftigen Titel des Buches, der der Ausdrucksstärke und Intensität der Erzählung nicht gerecht wird.

Die beiden Schwestern erzählen vom Verlust ihres Zuhauses und ihrer Nachbarn und Freunde, von ständigem Beschuss, von nagendem Hunger bei täglichen 159 Gramm Nahrung, von heimlichen Tränen, der Entfremdung vom eigenen Körper, und der Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass die ganze Welt via TV und die UN-Soldaten vor Ort zusehen, ohne einzugreifen. „Kriegsporno“ nennt Vernesa Berbo das. Wie überlebt man so etwas? Die Protagonistinnen hangeln sich jeweils von Augenblick zu Augenblick. Und manchmal nicht einmal das.

Der Sohn und das Schneeflöckchen ist dennoch kein trauriges Buch, sondern ein verstörend schönes. Der Zusammenhalt der Schwestern, die Liebe zu und von anderen Menschen, das Füreinander-Einstehen, kleine Gesten oder große, der Humor, sind Triebfeder dafür, weiterzumachen. Erst als die Schwestern getrennt werden, bleibt ihr Leben irgendwie stehen…

Die Autorin kennt den Krieg aus eigener Erfahrung. Vernesa Berbo lebte während der Belagerung in Sarajewo; 1993 kam sie als Kriegsgeflüchtete nach Berlin. Seitdem arbeitet sie als Schauspielerin, Musikerin und Autorin an verschiedenen Theatern in Deutschland. Derzeit steht sie im Schauspiel Stuttgart im Stück Eine runde Sache auf der Bühne. Der Sohn und das Schneeflöckchen ist ihr erster Roman.