Sunita Sukhana: Von Indien nach Deutschland – Was uns der Weg meines Vaters über Migration und Freundlichkeit von Fremden erzählt

S. Hirzel Verlag, 2023.
174 Seiten.

Foto: privat
Ausgabe: Dezember 2023

Interview mit der Buchautorin Sunita Sukhana

„Ich habe meine indische Wurzel für mich entdeckt“

Mit 25 Jahren, voller Erlebnishunger, jeder Menge Mut und ganzen 300 Dollar in der Tasche begibt sich Bagicha Singh 1979 auf dem Landweg von Indien nach Deutschland. Gut 40 Jahre später hat seine Tochter Sunita Sukhana einen Roman über seine außergewöhnliche Reise geschrieben. Wir haben mit ihr über Migrationsgeschichten, Identitäten und Heimatgefühle gesprochen.

Frau Sukhana, wann kam Ihnen die Idee zu diesem Roman?

In der Coronazeit. Ich habe wegen des Kontaktverbots viel mehr als sonst mit meinem Vater telefoniert. Und dabei erzählte er mehr als sonst von seiner außergewöhnlichen Reise von Indien auf dem Landweg nach Deutschland. Eigentlich wollte ich nur seine Erinnerungen für unsere Familie festhalten. Aber durch meinen beruflichen Wechsel zum Hirzel Verlag 2020 hatte ich die Idee, meine Geschichte dem Verlag zur Veröffentlichung anzubieten. Nach Durchsicht von Exposé und Leseproben stimmte Hirzel zu. Das Buchprojekt war geboren. Über einen Zeitraum von zwei Jahren habe ich dann in enger Abstimmung mit meinem Vater das Manuskript erstellt.

Sie schreiben Ihr Buch auf zwei Ebenen – die erste Ebene ist der Roman mit der außergewöhnlichen Reise ihres Vaters, die zweite Ebene ist eine Art historische Einordnung.

Mein Vater ist 1979 durch mehrere Länder von Indien nach Deutschland gereist. Ich wollte den Zeitgeist von damals und das politische Umfeld der bereisten Länder erfassen. Dabei musste ich feststellen, dass 1979 besonders für zwei Länder ein Schicksalsjahr war, das bis heute weltpolitisch ausstrahlt. In Afghanistan marschierten 1979 die Sowjets ein, im Iran wurde der Schah gestürzt und Ayatollah Chomeini rief die Islamische Republik aus. Diese Ereignisse wollte ich zur Einordnung mit meinen Leser*innen teilen. Übrigens dürfte mein Vater zu den letzten Reisenden auf dieser Route gehört haben, denn er verließ zwei Tage vor der Flucht des Schahs erst Teheran.

Dazu verholfen haben ihrem Vater auch schicksalhafte Begegnungen, wie sie eine Szene im Iran beschreiben.

Ja, in Teheran rät ihm ein weiser, alter Sikh im Gurdwara (Sikh-Tempel), dass er das Land so schnell wie möglich verlassen solle. Er konnte damals entscheiden, ob er bleibt und seine magere Reisekasse mit einem Job aufbessert oder dem Rat des Sikhs folgt. Mein Vater hat sich damals glücklicherweise auf den Rat des alten Sikhs verlassen. Bis heute hält er Begegnungen wie diese für eine Vorherbestimmung seines Weges.

In ihrem Buch beschreiben sie sehr berührend, wie der besagte Gurdwara in Teheran Ihrem Vater in der Fremde ein Heimatgefühl gibt. Wie wichtig sind solche Anker aus der Heimat heute noch im Zielland?

Integration sollte nicht Assimilation sein. Wir müssen anderen auch Raum geben, sie selbst zu sein und ihre Heimat aufleben lassen. Die Sensibilität für andere Kulturen und Lebensgeschichten ermöglicht uns erst eine Willkommenskultur. Wenn wir uns unsere Herkunftskulturen erzählen und teilen, verstehen wir uns besser und können uns auch wertschätzen.

Wie sind die Reaktionen auf Ihr Buch, Frau Sukhana?

Es gibt Leser*innen, die total überrascht sind, dass das Buch so positiv ist. Es geht tatsächlich um Freundlichkeit gegenüber Fremden, der Untertitel ist keineswegs ironisch gemeint. Es ist vielleicht ganz ungewollt ein Gegenbuch zur Problemmigration, über die aktuell so viel berichtet wird. Es ist ein Buch, das positiv stimmt, und zwar nicht nur indischstämmige Leser*innen. Ich bekomme Rückmeldungen von Menschen aus anderen migrantischen Communitys, zum Beispiel aus Ex-Jugoslawien, die ähnliche Erfahrungen in den 1990er-Jahren gemacht haben und sich spiegeln. Und sogar frühere DDR-Bürger finden ihre “Migrationserfahrung” in meinem Buch wieder. Sie beneiden meinen Vater teilweise, dass er einmal im Jahr seine Familie in Indien besucht, sie jedoch als Republikflüchtlinge bis zum Fall der Mauer warten mussten.

Sie haben eine deutsche Mutter und einen indischen Vater. Wie lesen Sie sich?

Vor dem Buch habe ich mich als Deutsche gelesen – mit einem indischen Vater. Durch meine Recherchen hat sich das grundlegend geändert. Die indische Kultur trage ich schon immer in mir, aber sie spielt nun auch eine Rolle in meinem Leben. Ich kenne inzwischen einige Deutsch-Inder*innen, die ähnliche Biografien haben, ich bekomme auf Instagram Nachrichten von Menschen mit Migrationsbiografien, ich interessiere mich für indische Musik und indische Filme. Vor dem Buch war ich eine Deutsche mit indischem Vater. Seit dem Buch fühle ich mich als Migrantin mit Migrationsgeschichte in zweiter Generation. Ich habe meine indische Wurzel für mich entdeckt.

Ihr Vater hat es “nur” bis Deutschland geschafft. Hat er je bereut, nicht sein Wunschland USA erreicht zu haben?

Nein, mein Vater hat die USA in den letzten 44 Jahren bereisen können. Und er hat einen US-amerikanischen Schwiegersohn bekommen. Ich habe in gewisser Weise das letzte Stück seiner eigentlichen Reise für ihn zu Ende gebracht (lacht).

Danke für das Gespräch, Frau Sukhana.

Danke auch!