Shantanu Salunke im Gespräch
Tempel der tanzenden Gefühle
Bevor Shantanu beginnt, trommelt er leise auf den Boden, um sich bei der Erde zu entschuldigen, auf die er trampeln wird, wie er sagt. Dann spricht er ein Gebet an Gott Shiva, „dessen Körper das gesamte Universum umfängt und dessen Stimme den Klang im Universum erzeugt. Shiva, dessen Ornamente der Mond und die Sterne sind.“ Es folgt eine Verneigung vor dem Publikum.
Bharatanatyam ist eine klassische indische Tempeltanzform, die im 20. Jahrhundert in Indien wiederbelebt wurde, kurz bevor sie in Vergessenheit geriet. Ihr Ursprung findet sich im südindischen Tamil Nadu. „Mit symmetrisch abstrakten Schritten und mittels Handgesten, sogenannten Mudras, und Mimik erzählt der Tanz Geschichten aus der indischen Mythologie“, erklärt Shantanu und blickt zurück.
Stuttgart, 2008: Shantanu hat vor zwei Jahren sein Studium der Robotik absolviert. Jetzt will er endlich Zeit für einen klassischen indischen Tanz finden. In der Stuttgarter Tanzschule Lotus lernt er die ersten Schritte des Bharatanatyam. Ein Tanz, der ihm in Sprache und Form fremd und abstrakt erscheint. Seit seiner Jugend weiß er, dass er tanzen will. Der Bharatanatyam stellt ihn vor eine große Herausforderung. Wer damit beginnt, ist meist noch im Kindesalter. Es gibt viel zu lernen und die körperlichen Anforderungen sind hoch. Shantanu will das Hindernis meistern. Er weiß, darauf hat er sein ganzes Leben gewartet.
„Ich hatte Angst, mein Körper könnte seinen Dienst versagen.“
Pune, Indien, 2017: Shantanu hat seine tänzerische Bühneneinweihung in seiner Heimatstadt mit renommierten Tanzlehrer*innen als Ehrengästen. Aus Südindien sind Musiker*innen angereist, um ihn an diesem wichtigen Tag zu begleiten. Caroline Gebert-Khan, seine Lehrerin aus der Tanzschule Lotus, ist dabei. Gayatri Krishnaveni Lakshmanan, seine heutige Lehrerin aus Indien, ist angereist, um das Orchester mit Zimbeln zu leiten. Ein Priester tritt auf die Bühne und segnet Shantanu. Im Publikum blickt er in wohlbekannte Gesichter. Nicht nur Familie und Verwandte, auch seine Lehrenden und Freunde aus Schulzeiten sind gekommen. Monatelang hat er auf seine Bühneneinweihung hingearbeitet, jede Geste und Mimik akribisch einstudiert. „Ich hatte Angst, mein Körper könnte an dem Tag seinen Dienst versagen.“ Shantanu setzt einen Schritt nach dem nächsten, verneigt sich vor dem Publikum und erntet große Begeisterung. „Eine Einweihung im Erwachsenenalter ist schließlich selten. Freunde sagten, ,was du geschafft hast, das können wir vielleicht auch erreichen‘.“ Shantanu lächelt. „Das schönste Gefühl ist für mich, mein Publikum zu erreichen.
Leonberg, 2025: Shantanu bereitet sich auf eine Aufführung im Stuttgarter Kulturwerk Anfang Februar vor. Das Obergeschoss seines Hauses hat er zu einem fernöstlichen Tanzstudio ausgebaut. Das Herzstück bilden die Gottheiten Nataraja, ein Aspekt von Shiva, und sein Sohn Ganesha, der als „Herr der Hindernisse“ diese beseitigen aber auch setzen kann. Weit über Indien hinaus gilt er als Schutzgottheit für Künstler, Kaufleute und Schriftsteller. Daneben steht eine Sarasvati Vina, ein altindisches Saiteninstrument, das der hinduistischen Göttin Sarasvati gewidmet ist. „Sie ist die Göttin der Gelehrsamkeit, der Musik und allgemein der Künste,“ erklärt er.
„Bharatanatyam wurde früher in Tempeln getanzt. Also bringen wir den Tempel auf die Bühne,“ fährt er fort. Den Göttern könne man nicht nur Rauchwerk und Süßigkeiten opfern, sondern auch den Tanz. Vor jeder Aufführung nimmt sich Shantanu ausführlich Zeit, dem Publikum die Geschichten zu zeigen, die sich hinter seinem Tanz verbergen. Im Mittelpunkt des Bharatanatyam stehen neun Emotionen (Navarasa) aus den Veden, einer zunächst mündlich überlieferten, dann verschriftlichten Sammlung religiöser hinduistischer Texte. „Liebe und Schönheit, Lachen, Trauer, Wut, Heldentum und Mut, Terror und Angst, Ekel, Überraschung und Staunen sowie Frieden und Ruhe.“ Ob er eine bevorzugte Emotion habe, über die er gerne tanzt? „Eine gute Frage“, sagt Shantanu. Die Erzählungen handeln vom Hochmut der Menschen und der Großzügigkeit der Götter. Von Zerstörung, Liebe und Auferstehung. Shiva, der im Übungsraum in seiner tanzenden Form dargestellt wird, ist eine zentrale Gottheit für Shantanu. Auch der Elefantenköpfige Gott Ganesha nimmt für ihn eine wichtige Rolle ein. Man müsse wissen, dass die Götter manchmal rasend vor Wut, herausfordernd oder destruktiv dargestellt sind. Das sei jedoch für das Gute. „Das Alte muss manchmal gehen, damit etwas Neues, Wunderbares entstehen kann.“